24.12.25

24. Dezember: Der Takt des Heiligen Abends

 Erzgebirge, Heiligabend. 

Die Dorfstraße von Lichtenau lag unter einer dicken, glitzernden Schneedecke. Normalerweise würden um diese Zeit die Straßen vom Lachen der Kinder und dem Läuten der Kirchenglocken erfüllt sein. Aber heute herrschte Stille. Eine tiefe, drückende Stille. 
Der dichte Nebel, der am Nachmittag aufgezogen war, dämpfte jedes Geräusch und ließ den Schein der Lichter in den Fenstern unruhig flackern, als würden die Kerzen gegen das Ersticken kämpfen.
Michael saß in seiner kleinen Uhrmacherwerkstatt, die er vor Jahren geschlossen hatte. Er war der beste Uhrmacher der Region gewesen, aber seitdem seine Frau gestorben war, hatte er keine einzige Feder mehr angefasst. Sein Glaube an den Sinn der Zeit war verschwunden.
Auf dem Tisch vor ihm lag seine goldene Taschenuhr. Seit drei Jahren stand sie auf genau 18 Uhr - der Stunde der Weihnachtsbescherung. Sie war in jenem Moment stehen geblieben, als seine Frau gestorben war. 
Doch heute war um 18:00 Uhr, vor drei Stunden, im ganzen Dorf die Zeit stehen geblieben. Die Turmuhr hatte nicht mehr geschlagen; auf der Straße war niemand mehr unterwegs.. Es war, als hätte der Nebel die Zeit selbst verschluckt. 
Plötzlich klopfte es leise an die Tür. Michael öffnete sie und sah niemandem – nur ein kleiner, verwitterter Holzkasten stand auf der Schwelle. Er hob den Kasten auf. 
Darin lag eine sehr alte Spieluhr, auf deren Deckel ein Engel eingraviert war. Der winzige Schlüssel zum Aufziehen fehlte und die Spieluhr hatte einen hässlichen Riss.. Das feine Räderwerk war so präzise und komplex wie die besten Uhren von Michael, aber mehrere Zahnräder waren zerbrochen.
Die kleinen Rädchen waren nicht durch Verschleiß kaputt gegangen, sondern durch einen plötzlichen, gewaltsamen Stopp. Vielleicht in dem Augenblick, als die Zeit im Dorf stehen geblieben war.
Er fühlte es: Die Spieluhr war das »Herz« der Zeit von Lichtenau; der Taktgeber für die Freude. Sie war verstummt, weil jemand den Glauben an das Fest verloren hatte.
Er selbst.
Michael brachte die Spieluhr unter das Licht seiner Werkbank. Er erkannte sofort, dass er sie nicht ohne Weiteres reparieren konnte. Die zerbrochenen Räder konnte er nicht mehr zusammenfügen. Er brauchte Ersatz.
Als er sich suchend umsah, fiel sein Blick auf die Taschenuhr; die letzte Erinnerung an die Zeit mit seiner Frau.
Er zögerte nur einen Moment. Dann nahm er sein feinstes Werkzeug und öffnete das Gehäuse der Uhr. 
Michael begann zu arbeiten. Seine Hände, die er für steif gehalten hatte, erinnerten sich an jeden Griff. 
 Es war kein Opfer – er gab das letzte Überbleibsel seiner eigenen Zeit auf, um die Zeit des Dorfes zu retten.
Er setzte die Teile aus seiner Uhr in die Spieluhr ein. Als das letzte Zahnrad einrastete, begann sie von selbst zu spielen – ohne Schlüssel, ohne Handkurbel.
Die Melodie war leise und süß, eine altbekannte Weihnachtsmelodie.
Draußen löste sich der Nebel auf. Die flackernden Lichter in den Häusern der Nachbarn wurden zu einem stetigen, warmen Leuchten. Die Kirchenglocken schlugen bald darauf die nächste Viertelstunde und dann kam das befreite Lachen von Menschen in der Gasse. Die Zeit in Lichtenau floss wieder.. 
Michael blickte auf seine Werkbank. Die Taschenuhr war nun nur noch eine leere Hülle aus Gold, ihres Herzens beraubt. Doch die Spieluhr spielte wieder. 
Er hatte nicht nur die Zeit gerettet, sondern auch das wahre Geschenk des Heiligen Abends gefunden: Die Zeit der Freude ist ein Ding, das man teilen muss.
Michael öffnete die Tür seiner Werkstatt und ging in die kalte, klare Weihnachtsnacht. Er hatte keine Uhr mehr, aber er hatte endlich wieder Zeit für das Leben.

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