8.12.25

8. Dezember: Dampf und Spott

 
Paris, 1898. 

Die Luft lag über der Stadt wie ein nasser, kalter Mantel, der seit vierzig Jahren nicht mehr gereinigt worden war. Vicomte Armand de Bellerive schlug den Kragen seiner Pelerine hoch. Keuchend atmete er langsam aus. Asthma. Ein Geschenk von der Stadt, die er zwar verabscheute, aber brauchte.
Armand zog an dem Hebel, der die Brennstoffzufuhr seiner dampfmagischen Limousine kontrollierten. Der Renault kroch durch die Rue Saint-Dominique. 
Ländlicher Adel fuhr nicht mit diesen Dampf-Stinkern – eigentlich. Doch die Geschäfte der Legitimisten, die den Bourbonen-Prinzen unterstützten, erforderten heute Unauffälligkeit.
Der Gau von ’58, ausgelöst von den englischen Quantenmagiern, hatte die Welt in zwei Lager gespalten: die unsaubere, aber pragmatische Dampfmagie, die Europas Industrie antrieb und die Luft verpestete. Und die verbotene saubere Quantenmagie, die in Frankreich alle heimlich nutzten, um die Preußen abzuwehren.
Armand fuhr schneller. Sein Vater hatte die Ehre über alles gestellt. Die preußische Herrschaft über Frankreich war der ultimative Angriff auf diese Ehre.
Er erreichte die Seine. Die Gaslaternen hingen niedrig, kaum sichtbar durch den klebrigen Nebel. Das brennende Holz knisterte im Kessel des Renault. Effizienz war alles. Ohne effiziente Technik hätten seine Ländereien in der Auvergne nach dem Gau keine Chance gehabt. Die verbliebenen Flussläufe führten Schwefelsäure.
Er parkte den Renault in einer engen, fast unsichtbaren Gasse. Seit Siam schmerzte sein linkes Bein. Er ignorierte den Schmerz. Die Narbe auf seiner Wange neben dem rechten Ohr pochte wieder, weil es so kalt war. Aber der Krieg in Siam hatte ihn gelehrt, nur Fakten und Struktur zu vertrauen. Emotionen gehörten zur Kavallerie, nicht zum Ingenieurskorps.Heute ging es um Struktur. Ein Bauplan für einen neuen, preußischen Dampfkessel zur Wasseraufbereitung für die Weinproduktion. Die Orléanisten wollten ihn. Die Bourbonen brauchten ihn. Der Feind war nicht nur Preußen, sondern auch der anmaßende Prinz, der vom englischen Pfund finanziert wurde. Verrat am Erbe.
Er stieg aus. Eine lange, blonde Haarsträhne fiel ihm ins Gesicht. Er wischte sie mit einer gleichgültigen Geste zurück. In seinen Augen funkelte der Spott, der ihn stets so unerschütterlich erscheinen ließ.
Er betrat den Innenhof eines alten Palais’. Mit Spott in den Augen sah er sich um. Ein Händler hatte hier drei müde Girlanden mit Kerzen aufgehängt. Ein Advent, der den Schmutz verbergen sollte. Tannenzweige lagen auf dem Boden. Ein Kinderchor sang mit dünnen Stimmen ein altes, verbotenes Lied über die Weihe der Nächte.
 Erinnerungen an die Abtei, in der er als Kind unterrichtet worden war, meldeten sich. 
Armand zögerte weiterzugehen. Aber ein gutes Verhältnis zu den Bauern war wichtiger als der Thronstreit.
Er kaufte einem Straßenhändler eine glänzende Zuckerstange in Form eines Zylinders ab und reichte sie einem Kobold, einem Zwitterwesen aus dem Riss, das ihn mit gelben Augen ansah. »Der Vicomte kauft Süßigkeiten?«, fragte der Kobold mit hoher Stimme.
Armand lächelte schief. »Man muss die Verpflichtungen der Saison respektieren«, sagte er. »Auch wenn das Zuckerwerk nach Rauch schmeckt.« Er gab dem Kobold ein kleines Silberstück. Ein Obolus an den Riss, damit der ihn in Ruhe ließe. Der Kobold nickte langsam, ein gurgelndes Geräusch entfuhr ihm.
Armand erreichte sein Ziel: ein kleiner Uhrmacherladen, dessen Schaufenster vom Qualm der Stadt verrußt war. Er klopfte den geheimen Rhythmus: zwei kurz, eins lang, drei schnell.
Die Tür öffnete sich. Ein alter Mann, die Hände tief in den Ärmeln seiner Tunika vergraben, nickte ihn hinein. Ein Druide. Natürlich ein Druide: Wer verstand Magie besser als die, die sie verloren hatten?
Er betrat den Laden. Der Geruch von Öl, Holz und verbranntem Messing schlug ihm entgegen.
Der Druide ging zum Hinterzimmer. Armand folgte ihm und tat vorsichtig einen tieferen Atemzug. Die klebrige Luft kroch sofort in seine Lunge.
»Vicomte«, sagte der Druide. Seine Stimme klang wie altes, trockenes Laub. »Ihr habt den Kontakt gewünscht. Ihr kennt den Preis für meine Vermittlung: Eure ländlichen Wasserversorgungspläne von ’59. Die alten Leitungen sind die einzig sauberen Transportwege im ganzen Land.«
»Die Pläne könnt Ihr haben.« Armand zog eine gefaltete Zeichnung aus seiner Jacke und legte sie auf den Tisch. »Damit habt Ihr Zugang zu den alten Quellen. Euer Honorar istsomit  beglichen.«
Armand sah sich um. An den Wände hingen antike, dampfmagische Zahnräder. Die Logik der Druiden war einfach: Sie hassten die Dampfmagie, aber sie brauchten die Technik, um die Schäden des Gau zu beheben. Pragmatismus über Dogma. Eine Haltung, die Armand respektierte.
»Die Dampfmagie hat uns nur Schmutz und Krankheit gebracht«, fuhr Armand fort, während er einen kleinen, versilberten Koffer auf den Tisch legte. »Aber die preußische Technik ist manchmal nötig, um den Dreck aufzuräumen. Wie mein Vater sagte: Die ehrenhafteste Waffe ist die, die funktioniert.« Er vermisste ihn, aber die Idee vom Vater noch mehr als die reale Figur.
Er öffnete den Koffer. Keine Goldmünzen, die man stehlen konnte. Nur kleine, sorgfältig geschmiedete Zahnräder und Dampfventile. »Präzision«, sagte Armand. »Das, was der risktanten Quantenmagie fehlt. Das ist das Entgelt für den Bauplan. Messing für Pergament.«
Der Druide verzog keine Miene. Er legte ein altes, zusammengerolltes Pergamen vor Armand hin. »Der Bauplan: Es ist ein preußisches Design. Es hat ein patentiertes Mehrkammer-System, das die Schwefelsäure in den-Flüssen neutralisiert, sodass sie wieder genutzt werden können.  Es ist mehr als das richtige Material, Vicomte. Es ist die Logik der Ventile und Kammern, die den Dreck in Dampf verwandelt. Ein Weg, den Schmutz zu nutzen.«
Armand nickte. Er ignorierte den ekelhaften Geschmack von Holzkohle in der Luft. Er hasste die preußischen Dampfpflüge, die die Ländereien seiner Bauern verpesteten. Aber ihre Kessel waren effizient. Effizienz war alles, wenn man die Ernte retten wollte.
Er rollte den Plan auseinander. Das dünne Pergament fühlte sich kalt an. Er studierte die Zeichnungen eines Hochdruck-Kessels. Perfektion.
»Die Orléanisten wollten den Plan auch«, sagte Armand, seine Stimme blieb unterkühlt. »Sie setzen auf die Engländer. Das ist Selbstmord. Die Engländer haben den Gau ausgelöst! Sie wollen unsere Ressourcen unter dem Deckmantel der Allianz stehlen. Ich war in Siam. Ich kenne diese Art von Bündnis.« Er berührte die Narbe auf seiner Wange.
Der Druide hob eine braune, ledrige Hand. »Politik interessiert die Druiden nicht. Wir wollen unser Land heilen. Ihr Bourbonen seid weniger schlimm als die anderen. Ihr redet über die Bauern. Die anderen reden über die Börse. Pragmatismus ist die letzte Magie dieser Welt. Der Winter kommt. Das Wasser muss fließen.«
Armand lächelte schief. Der Spott erreichte seine Augen. »Pragmatismus. Genau. Ein Ingenieur versteht das. Der Schmutz muss gereinigt werden. Egal, wer am Ende auf dem Thron sitzt. Hauptsache, es ist ein französischer König und kein preußischer Junker.«
Sie tauschten die Pakete. Armand verwahrte den Plan sicher in der Innentasche seines Mantels.
Auf dem Weg hinaus hielt er einen Moment inne. Der Kinderchor im Hof sang immer noch.
Armand zog seine Pelerine enger und kehrte zu seinem stinkenden Renault zurück. Bevor er einstieg, griff er in die Manteltasche und holte den glänzenden Zuckerstangen-Zylinder hervor. Er brach ein Stück ab. Es schmeckte künstlich und trotzdem nach einer verlorenen Adventszeit.
Geich darauf stieg dicker, schwarzer Rauch aus dem Kessel seines Renault und vermischte sich mit dem Duft von Weihnachten. Er hatte die logische Entscheidung getroffen. Der Bauplan war gesichert. Die Ländereien würden überleben. Die Politik konnte warten.

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