Genf, kurz vor Weihnachten 1944
Der Schnee knirschte nicht. Arthur Brandt achtete penibel darauf. Der frische Pulverschnee wäre ein akustischer Verräter. Er bewegte sich nur auf den eisglatten Steinfliesen zwischen den Gräbern. Die Kälte fraß sich durch den schweren Wollmantel.
Arthur stoppte hinter einem schwarz schimmernden Grabstein. Er trug den Namen Dubois. Eine unspektakuläre Existenz, die Arthur beneidete.
Er überprüfte die Taschenuhr. Viertel vor Sieben. Zwölf Minuten bis zum Treffen. Der Ort war ein Sinnbild der Paranoia: Ein Friedhof bot Deckung und symbolisierte die tödliche Ernsthaftigkeit dieses Geschäfts.
In der Innentasche seines Mantels steckte die Liste. Sie war nicht länger als eine Zigarrenbanderole. Doch die Namen darauf waren Treibstoff für das Ende des Krieges. Sein eigenes Leben hing an diesem Papier.
Er hörte nichts. Nur das ferne, gedämpfte Geräusch eines Straßenbahnwagens in der Stadt. Die Stille des Friedhofs war feindselig.
Arthur verkroch sich tiefer in seinen Kragen. Er war Diplomat gewesen, jetzt war er Kurier für das O.S.S. Die Übergabe musste rein logistisch sein. Keine Gefühle. Keine Fehler.
Sein Blick glitt über die Gräberreihen. Er suchte den markierten Engel. Das war der vereinbarte Ort.
Der Engel stand auf dem nächsten Hügel. Eine Statue aus weißem Marmor. Ihr Gesicht war von Schnee bedeckt.
Arthur wartete. Die Zeit dehnte sich. Jeder Atemzug war ein Geräusch.
Ein schwacher, gelblicher Schein zuckte auf. Dreimal. Kurz, kurz, lang.
Der Kurier war da.
Arthur bewegte sich schnell und geduckt über den Boden. Die Kälte drang in seine Stiefel. Er erreichte den Marmor-Engel.
Hinter der Statue stand eine Frau. Sie trug einen praktischen, dunklen Anorak. Ein unauffälliges Gesicht. Ihre Augen waren wachsam.
Das Codewort: Veritas. Es stand im Schnee auf der Statue. Das war ihre Legitimation.
»Die Liste«, flüsterte die Frau. ihre Stimme klang metallisch und kalt.
Arthur nickte. Aber er zögerte einen Moment. Er musterte die Umgebung ein weiteres Mal.
»Ihre Gegenleistung.« Er streckte seine Hand aus.
Die Frau zog einen kleinen, schweren Beutel aus dem Anorak. Er roch nach altem Leder und feuchter Erde. »Einhundert Gold-Franken.« Wie vereinbart für die sichere Übergabe der Daten.
Arthur nahm den Beutel entgegen. Die Kälte des Metalls kroch in seine Handschuhe. Er gab ihr die Liste aus der Innentasche. Das Papier war feucht - von Schnee oder seinem eigenen Schweiß?
Die Frau nahm das Papier und verschwand sofort hinter dem nächsten Grabstein. Lautlos.
Arthur wartete zehn volle Minuten. Er hörte nichts. Die Stille schien schwerer als zuvor.
Er öffnete den Beutel. Das Gold schimmerte schwach im Dämmerlicht des Friedhofs.
Quer über den Friedhof eilte Arthur zurück zum Eingang. Die Übergabe war abgeschlossen, die akute Gefahr gebannt.
Das Friedhofstor quietschte in seinen Angeln, als er es schloss. Die kalte Luft Genfs kühlte seine schweißnasse Stirn. Statt der Paranoia eine Gewissheit: Der Auftrag war erfüllt. Der Frieden rückte einen Schritt näher.
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