3.12.25

3. Dezember: Das Herz der Wiener Uhr

 Wien, 1888. Sophie schloss die schwere Eichentür zum Atelier ihres verstorbenen Meisters, Raimund Kessler. Sie arbeitete als seine »Nichte«, um ihren eigenen Namen vor den Schatten ihrer Vergangenheit zu verbergen. Doch jetzt war sie allein mit seinem geheimsten Projekt.

Im Zentrum des Ateliers stand die »Kessler-Uhr« – ein kunstvoller Turm aus poliertem Messing und getriebenem Glas. Statt der Stunden zeigte sie einen endlosen Strom von Zahlen und symbolischen Kurven – die Börsenkurse der kommenden Woche.

Sophie wusste, dass der korrupte Baron von Schwarz hinter diesem Orakel her war. Er hatte Kessler getötet und würde keine Rücksicht auf Sophie nehmen. Sie musste die Uhr verstecken oder zerstören.

Sie versuchte, die Mechanik zu stoppen, aber die Uhr lief ohne sichtbaren Antrieb. Sie versuchte, den Kristall zu entfernen, aber er saß fest. Sie erinnerte sich an Kesslers Worte: »Die Uhr hört nur auf den Takt des Lebens.«

Sophie untersuchte die Innenseite des Gehäuses und fand eine winzige, unsichtbare Gravur – eine Reihe von Schwingungsfrequenzen. Es war ein Code, der in einer Frequenz gemessen wurde, die sie nicht lesen konnte.

Plötzlich hörte sie Schritte auf der Treppe – der Baron war da. Sophie hatte nur noch Sekunden.

Sie erinnerte sich an eine Eigenheit von Kessler: Er hatte ein Herzleiden gehabt, dessen unregelmäßiger Schlag in den letzten Jahren zu seinem ständigen Begleiter geworden war. Der rätselhafte Code war nicht die Frequenz einer Maschine, sondern der einzigartige Rhythmus von Kesslers Herz!

Sophie hielt ihren Atem an. Die exakte Schlagfolge von Kesslers krankem Herzen konnte sie unmöglich reproduzieren. Aber sie hatte etwas anderes.

Sie riss die Unruh ihrer eigenen Taschenuhr heraus – ein winziges, schnell tickendes Rädchen. Sie drückte es gegen die Oberfläche des Kessler-Turms, wo die Gravur war.

Der Baron betrat das Atelier.

Die Uhr nahm den fremden Takt auf – nicht den Takt der Krankheit, sondern den Takt des fliehenden Lebens. Ein leises Klicken ertönte, und die Zahlen auf der Kessler-Uhr begannen, sich schnell und unregelmäßig zu verändern. Dann fiel der Hauptzeiger ab. Nun war die Uhr nutzlos, ein Haufen wertlosen Messings.

Der Baron sah auf die zerbrochene Uhr und auf Sophie, die die Hand hinter ihrem Rücken verbarg. Er musste denken, die Uhr sei durch einen technischen Fehler zerstört worden. 

Er stieß einen Fluch aus und stürmte hinaus.

Sophie atmete erleichtert auf. Sie hatte die Zukunft nicht gerettet, aber sie hatte die Gier gestoppt. Sie hielt die zerbrochene Unruh ihrer eigenen Uhr fest in der Hand – das wahre Herz der Zeit.

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