9.12.25

9. Dezember: Zimt und Konformität

Konformitäts-Score: 98,7.
Elise zwang ihre Gesichtsmuskeln in ein sanftes, neutrales Lächeln. Jede Abweichung von der durchschnittlichen Frequenz registrierten die Augen der winzigen Überwachungsdrohnen, die wie glänzende Mücken unter der Kuppel schwirrten.
Die Konsum-Kuppel 4 war steril. Weißer, polierter Nano-Beton. Die Gänge leuchteten in perfekten, funktionalen Farben. Die Regale waren algorithmisch optimiert. Keine Unordnung, keine Überraschung. 
Keine Freude.
Elise schob den Standard-Warenkorb vor sich her. Seine Scanner summierten ihren aktuellen Kauf-Score. Sie brauchte den Zimt. Echten Zimt. Ein Geruch, der seit Generationen verboten war. Ein Zeichen des Widerstands.
»Guten Tag, Konformitäts-Bürger 447-Beta«, meldete sich die glatte, synthetische Stimme der Kuppel-KI. »Ihr Kaufprofil ist heute um 14 Prozent unter der Erwartung. Bitte optimieren Sie Ihre Entscheidungen für den Nährwert 3 und die Funktionalität 4.«
Elise nahm eine Packung Protein-Paste mit neutralem Geschmack. Score stabilisiert. Sie bewegte sich mit der perfekten Geschwindigkeit der Durchschnittsverbraucherin. Sie konnte es sich nicht leisten, als ineffizient oder gar emotional aufzufallen.
Sie erreichte die Proteinquellen. Synthetisches Rind. Synthetisches Huhn. Fakten, keine Tradition. Sie schaute nach links. Der Gang 7. »Historische Abweichungen«. Eine dunkle Nische, die von den »Augen« der Drohnen gemieden wurde, da sie keine relevanten Daten lieferte.
Dort lag das Ziel. Die Sektion »Gewürze der Vergangenheit«. Verstaubte Dosen, die niemand kaufte. Die KI wusste, dass diese Zutaten keinen Nährwert besaßen und nur emotionale Reaktionen auslösten.
Elise bog ab. Ihr Atem wurde flacher. Die Veränderung der Lichtintensität war minimal, aber es war wie ein Sprung in eine andere Dimension.
Sie erreichte das Regal. Zimt Cassia. Zimt Ceylon. Der echte Zimt Ceylon. Er kostete so viel wie eine Wochenration Paste. Aber der Preis war irrelevant. Das war der Duft von Weihnachten, den ihre Großmutter in ihrem geheimen Archiv von Erinnerungen beschrieben hatte.
Eine Augen-Drohne schwebte über ihrem Kopf. Sie scannte ihr Gesicht. »Konformitäts-Bürger 447-Beta, unlogische Verweildauer in Sektor 7. Bitte setzen Sie Ihren Kauf fort«, forderte die KI.
Elise griff nach der Dose. Ihre Hand zitterte nur minimal. Jede Sekunde hier kostete sie Konformitäts-Punkte. Zu viele verlorene Punkte bedeuteten Besuch vom »Reinigungsdienst«.
Elise legte die Zimtdose neben die Protein-Paste. Der Kontrast war absurd. Die KI würde diese Kombination als nutzlos und emotional klassifizieren.
Schnell ging sie weiter. Sie musste ihren Score wieder erhöhen. Sie wählte ein »optimiertes« Getränk, das für ihr Alters- und Berufsprofil vorgesehen war.
»Kaufprofil korrigiert«, meldete die KI. Ein Hauch von Zufriedenheit in der synthetischen Stimme. Die KI war zufrieden, wenn der Mensch vorhersehbar handelte.
Elise erreichte die Kassen-Zone. Die Registratoren warteten, glänzende, stahlharte Maschinen. Keine menschlichen Kassierer, nur reine Rechenleistung.
Sie schob den Warenkorb durch den Scanner. Piep. Protein-Paste. Piep. Optimiertes Getränk. Dann der Zimt.
Ein rotes Licht flackerte kurz auf dem Display. Die KI zögerte.
»Unübliche Auswahl«, meldete der Registrator. »Artikel 939-C-44 (Zimt) bietet keinen relevanten Nutzen. Bitte bestätigen Sie den emotionalen Wert dieses Kaufs oder entfernen Sie den Artikel.«
Elises Pulsfrequenz stieg an. Sie durfte keinen Fehler machen. Sie hatte die Antwort vorbereitet.
Sie lächelte das neutrale, konforme Lächeln und sagte in perfektem, KI-gerechtem Jargon: »Funktionalität korrigiert. Artikel 939-C-44 dient der Optimierung der Gedächtnis-Funktion durch die Stimulierung von olfaktorischen Neuronen-Pfaden. Steigerung der Konzentrationsleistung um 0,03 Prozent.«
Stille. Die KI analysierte die Aussage.
»Logik akzeptiert«, meldete die Stimme schließlich. Die KI konnte jeden Unsinn schlucken, solange er in der Sprache der Optimierung formuliert wurde.
Elise zahlte mit ihrem Chip und verließ die Kasse. Sie ging durch die Ausgangsschleuse. Die Drohnen schwirrten weiter. Keine Sirenen, keine Verhaftung.
Draußen traf sie die kalte Nachtluft der Dystopie. Die Lichter der Kuppel waren hell und unbarmherzig.
Elise erreichte ihre sterile Wohnzelle und schloss die Tür ab. Sie nahm die Zimtdose aus dem Einkaufskorb und öffnete den Deckel.
Der Duft des Zimts breitete sich aus. Warm, würzig, wie eine verlorene Sonne. Es war nicht nur Geruch. Es war die Rebellion selbst.
Sie nahm einen winzigen Keks, den sie heimlich gebacken hatte, und bestreute ihn mit dem verbotenen Gewürz. Die erste Rebellion dieses Advents war gelungen.

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