21.12.25

21. Dezember: Im Neonlicht des Verrats

 Der Schnee kam in dicken, nassen Flocken herunter und ertränkte die grellen Neonlichter Shinjukus. Kenji zog den Kragen seines Mantels hoch, während er durch die leeren Gassen schlich. Die Stadt, normalerweise ein Ozean aus Menschen, war durch den unerwarteten Sturm seltsam still.
Sein Auftrag war anonym und einfach: Um Mitternacht einen Datenträger entgegennehmen. Der Treffpunkt: Die »Electric Den«, eine seit Jahren geschlossene Arcade-Halle.
Kenji schob die rostige Stahltür auf. Im Inneren war es dunkel und kalt. Die ausgeschalteten Automaten ragten wie grabsteingroße Totenwächter in die Höhe. Das Notlicht im hinteren Bereich warf einen schmutzig-gelben Kegel auf einen einzigen Automaten – den mit dem zerbrochenen Bildschirm und der Aufschrift »Galactic Rider«.
Eine kleine, schlanke Gestalt saß auf dem Hocker vor diesem Automaten. Sie trug einen dunklen Wollmantel und einen schwarzseidenen Schal über Mund und Nase.
»Du bist spät«, flüsterte die Gestalt, ohne sich umzudrehen. 
Kenji erstarrte. Er kannte diese Stimme. Er kannte die Art, wie sie den Mund verzog, selbst unter dem Schal.
»Akira«, sagte er; seine eigene Stimme war kaum mehr als ein Röcheln.
Sie drehte sich langsam um. Akira. Seine ehemals beste Freundin, seine Partnerin in der Sicherheitsfirma, die ihm vor zwei Jahren in einer komplexen Betrugsaffäre alles genommen hatte. Ihr Gesicht war blass im Notlicht, ihre Augen waren noch genauso scharf wie in seiner Erinnerung.
»Überrascht?« fragte sie. Ihre Stimme war frei von jeder Emotion.
»Das Paket.« Kenji versuchte, die Vergangenheit auszuschalten. »Wo ist es?«
Akira zog eine kleine, silberfarbene Kassette aus ihrem Mantel und legte sie auf den Kontrollkasten des »Galactic Rider«.
»Hier ist der Datenträger«, sagte sie. »Er enthält die Quartalsberichte von drei der größten Banken Asiens.«
Kenji ging näher und nahm die Kassette. Sie war überraschend schwer. Genau in dem Moment, als seine Finger die ihren berührten, leuchtete die zerbrochene Anzeige des Automaten plötzlich auf.
Ein grüner, digitaler Text lief über den gesplitterten Bildschirm:
»START-PROTOKOLL 21-12 GEPRÜFT. CODE AKZEPTIERT.«
»Was zum Teufel?« sagte Kenji. »Das ist keine Finanzdatei!«
»Es ist beides«, erklärte Akira ruhig. »Die Finanzdaten sind die Tarnung. Aber die Kassette enthält auch einen Code zur Deaktivierung eines Netzwerk-Sicherheitssystem.«
»Wer bezahlt dich dieses Mal?«, fragte Kenji. Er spannte unwillkürlich seinen Körper.
Akira lächelte, ein trauriges, gebrochenes Lächeln, das durch das grüne Neonlicht noch gespenstischer wirkte.
»Ich habe mir einen neuen Arbeitgeber gesucht«, sagte sie. »Dieselbe Organisation, die mich damals gezwungen hatte, dich zu verraten.« Sie deutete auf die Kassette in seiner Hand. »Der Datenträger ist magnetisch verschlüsselt. Du bist der erste physische Kontakt nach dem Kurier. Deine Fingerabdrücke sind nun mit dem Code verbunden.«
Sie benutzten ihn als Sündenbock. Kenji hielt nicht bloß die Informationen in der Hand; sie konnten ihm auch die Schuld für den bevorstehenden Angriff geben.
Akira stand auf. »Die Uhr tickt, Kenji. In drei Minuten wird der Code aktiviert und der Finanzmarkt wird zusammenbrechen.« Sie drehte sich um und ging in die Dunkelheit zurück. 
Die Kassette brannte wie eine heiße Kohle in seiner Hand. Draußen heulte der Wind, und der Schnee tanzte vor dem Eingang. Er hatte zwei Möglichkeiten: Die Kassette zerstören und den Angriff stoppen, oder versuchen, die Daten zu analysieren und einen Weg finden, Akiras Organisation auszuschalten. 
Beide Optionen brachten sein Leben in Gefahr. Das machte ihn frei. Jetzt würde er die Katastrophe verhindern; danach einen Weg finden, die Organisation auch ohne die Daten auf der Kassette zu vernichten.
Die Uhr in der »Electric Den« tickte nun auch für ihn.
Kenji legte die Kassette auf den Boden und zertrümmerte sie mit einem einzigen Tritt. Da er ohnehin zum Sündenbock gestempelt war, gab ihm das die Freiheit, das Desaster ohne Rücksicht auf seinen Ruf zu verhindern; mit der Organisation konnte er sich später immer noch befassen.

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