13.12.25

13. Dezember: Die Bürde der Nonne

 Dorf Eichenberg, 1348. 

Der Schnee lag dicht und unberührt auf den strohbedeckten Dächern. Eine unheimliche Stille herrschte ringsum – eine Stille, die  von der Angst stammte.
Schwester Agnes zog den grob gewebten Mantel enger um sich. Ihr junges Gesicht war gezeichnet von Müdigkeit. Die Pest, die schwarze Geißel, hatte das kleine Kloster schon vor Tagen erreicht. Drei Nonnen waren gestorben.
Agnes war die jüngste und stärkste der Nonnen. Ihre Äbtissin hatte sie beauftragt, im Wald die letzte Hoffnung des Dorfes zu suchen: silbernen Beifuß und  Wacholderbeeren – Kräuter, die die Symptome lindern konnten.
Sie trug einen kleinen Korb aus Weidenruten für die Kräuter und einen eisernen Stab für den Weg. Der Pfad würde sie tief in die  unwirtlichen Wälder am Fuße der Hügel führen.
Am Dorfbrunnen traf sie auf Klaus, den Schmied.  Seine Augen waren gerötet und voller Misstrauen. Die Hysterie hatte die Gemeinschaft schon vergiftet, bevor es die Krankheit tat.
»Wohin, Schwester Agnes?«, knurrte er. »Warum verlässt du das abgeriegelte Kloster? Du bringst uns nur Unheil.«
Agnes hielt seinem Blick stand. »Ich suche Heilung, Klaus. Für die Deinigen. Habt Vertrauen. Unsere Pflicht ist es, Gottes Werk zu vollenden.«
»Gott hat uns verlassen», sagte der Schmied bitter. Er stellte sich ihr in den Weg. »Kehr um! Du bist die Botin des Todes!«
Agnes machte wortlos einen Schritt zur Seite. Sie wusste, dass Worte jetzt keine Heilung brachten. Nur Taten zählten. 
Der Schmied zögerte. Die Nonne strahlte eine Entschlossenheit aus, die seine Angst vor dem Unbekannten weckte. Er ließ sie durch und sie ging direkt auf den Waldrand zu.
Im Wald wurde die Kälte intensiver. Hier gab es keine Angst vor der Pest, nur die reine, gnadenlose Kälte des Dezemberwaldes.
Agnes ging in die Knie. Der silberne Beifuß wuchs im Schutz von alten Eichenwurzeln. Sie musste tief in den Schnee greifen, um die zarten, blassgrünen Blätter zu finden. Die Wacholderbeeren hingen gefroren an den niedrigen Ästen. Ihre Finger wurden bald taub.
Sie arbeitete bedächtig und sorgfältig. Jede Pflanze, jede Beere wurde mit einem kurzen Gebet geerntet. 
Als der Korb halb voll war, sah sie eine Bewegung im Dickicht. Ein Wolf. Er war mager und hungrig.
Agnes erhob sich  und nahm ihren Stab wieder fest in die Hand. Sie hob   als  Symbol ihrer göttlichen Pflicht – eine stille Versicherung ihrer Entschlossenheit.
Sie sprach leise und   dennoch wurde ihre Stimme durch den Wald getragen: »Wir sind beide Opfer dieser Kälte. Ich suche kein Fleisch, sondern Heilung. Lass mich meine Pflicht erfüllen.«
Der Wolf zögerte und flehmte. Er witterte die Kräuter, die die Nonne mit sich trug. 
Nach einem langen, schweigenden Moment drehte sich der Wolf um und verschwand im Wald.
Agnes füllte den  Korb weiter. Als die Dämmerung einsetzte, war  er voll und ihre Arbeit getan.
Sie kehrte zum Dorf zurück. Klaus, der Schmied,  stand wieder am Brunnen. Er blickte auf den vollen Korb.
Er sprach kein Wort, sondern nickte nur schwerfällig. Die Angst war immer noch da, aber die Wärme von Agnes’ Mut war ein kleiner Sieg gegen die Kälte der Seele.
Agnes ging durch das Tor des Klosters. Sie spürte das  Gewicht des Korbes an ihrer Hüfte: die Bürde ihrer Pflicht – und die Hoffnung der Kranken auf Genesung.

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