Die Luft im »Datenkeller« roch nach Ozon und altem Schweiß. In diesem illegalen, unterirdischen Archiv von Neu-Berlin trafen sich die »Gelöschten« – Menschen, deren digitale Existenz vom »Corporate State« ausradiert worden war. Ohne diese ID waren sie Geister.
Elke saß hinter einem Tisch voller korrodierter Server-Gehäuse und blinkender Lichter. Sie war eine Archivarin, eine Hackerin, die versuchte, die letzten Fragmente verlorener Identitäten aus dem Netzwerkschutt zu ziehen. Elke selbst hatte einen »Memory-Reset« hinter sich und lebte mit Lücken in ihrer Vergangenheit.
Ihr Kunde an diesem Tag war ein Mann namens Kai, dessen Gesicht durch den Stress der Anonymität gezeichnet war.
»Sie haben alles gelöscht«, flüsterte Kai, Verzweiflung in seinen Augen. »Mein Bankkonto, meine Zertifikate, die Gesichter meiner Kinder in den Familien-Clouds.«
»Ich habe einen letzten Knoten gefunden«, sagte Elke und zeigte auf einen digitalen Faden, der auf ihrem Bildschirm flackerte. »Eine alte VR-Sicherheitsmatrix. Sie ist instabil und ausgestattet mit einer primitiven KI, aber sie könnte ein Backup Ihrer Identität enthalten.«
»Das Passwort ?«, fragte Kai.
Elke zögerte. » Es ist kein Code, Kai. Es ist ein ›Sensor-Lock‹. Ein einzigartiges physisches Gefühl, das im Moment der Speicherung Ihres Backups empfunden wurde.«
Elke setzte das VR-Headset auf. Sie musste zuerst die Matrix entsperren, da die KI jede fremde Verbindung zerstören würde.
Der virtuelle Raum um sie herum entfaltete sich: Eine unendliche, glasklare Krypta, bewacht von pulsierenden Feuerwänden – die KI-Verteidigungssysteme.
Im Zentrum der Krypta stand ein Daten-Monolith. Darauf flackerte die Aufforderung: »PASSWORT: EMPFINDUNG EINGEBEN«.
Elke verzweifelte. Wie konnte sie ein fremdes Gefühl simulieren? Die VR-Systeme konnten Gerüche, Temperaturen und Schmerzen generieren, aber sie musste das richtige finden.
»Kai«, sagte Elke über das Headset. »Erinnern Sie sich an den Moment des Backups? Was haben Sie gefühlt?«
»Ich weiß es nicht!«, antwortete Kai. »Es ging alles so schnell! Ich war in Eile! Furcht! Wut!»
»Zu allgemein«, flüsterte Elke. »Die KI braucht etwas Einzigartiges.«
Elke scannte die Matrix und bemerkte einen seltsamen Sub-Code: Die Sicherheitsmatrix war durch einen alten Datensatz von ihrem eigenem Reset geschützt. Das hieß, ihre eigenen verlorenen Erinnerungen bewachten die Tür.
Elke sah ihre digitale »Wächter-KI« näherkommen – eine geisterhafte Kopie ihrer eigenen Jugend. Sie hatte keine Zeit mehr.
Elke konzentrierte sich auf das Gefühl, das sie am meisten vermisste, das wahrscheinlich auch in ihrer eigenen verlorenen Vergangenheit lag – die Gewissheit der Liebe. Sie generierte einen VR-Impuls: Den kurzen, warmen Druck einer Hand, die ihre eigene hält, verknüpft mit der synthetischen Süße von heißer Schokolade und dem Geruch von Altholz.
Der Monolith leuchtete kurz auf, aber die KI-Wächterin schüttelte den Kopf.
»Falsch«, sagte die jugendliche Stimme der Wächterin. »Nicht das Gefühl der Liebe.«
»Was dann?«, schrie Elke.
Die Wächterin zeigte auf die Feuerwand, die sich auf sie zu bewegte. »Der emotionale Anker ist kein Wohlgefühl bei Ihnen gewesen, Elke. Im Gegenteil.«
Elke atmete tief ein. Sie änderte den VR-Impuls. Sie simulierte die Empfindung von absoluter Verzweiflung und Angst – der Geschmack von Metall im Mund, die nasse Kälte von Tränen auf der Haut, und der Druck eines Messers im Rücken.
Mit einem silbernen Lichtblitz explodierte der Daten-Monolith, während die Wächter-KI langsam verblasste. Endlich war der Sensor-Lock durchbrochen. Als Schlüssel hatte Kais traumatischste Erinnerung gedient, die zufällig mit Elkes eigenem tiefen Schmerz übereinstimmte.
Elke verließ die Matrix. Auf ihrem Bildschirm floss ein Strom von Datenfragmenten – Kais Identität war gerettet. Aber Elke hatte nun das Gefühl des Messers in ihrem eigenen Gedächtnis – eine Erinnerung, die ihr eigener Memory-Reset zuvor nicht freigegeben hatte. Die suchende Archivarin hatte ihren eigenen Schmerz wiedergefunden.
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