Mars-Forschungsstation Ares-3, Sektor Grün, 08:00 Standard-Ortszeit.
Die Alarmlichter pulsierten in aggressivem Rot. Überall in der Station ertönte das tiefe, grollende Heulen des Mars-Sandsturms.
Dr. Rainer Westen, Leiter der Botanik-Sektion, rieb sich den Schlaf aus den Augen. Er hasste diesen Klang, denn er bedeutete Isolation, Druck und Gefahr. Er stürzte zum Analyse-Terminal und überflog die automatisch generierten Diagnosen.
»Westen, Bericht!« Die Stimme von Kommandantin Ilenia knisterte im Kommunikator.
Rainer blieb vor den Bildschirm stehen. »Biosphäre 1 hat einen kritischen Ausfall. Der Hauptregler für die CO2 -Zufuhr ist blockiert. Er reagiert auch nicht mehr auf manuelle Befehle. Ein mechanischer Defekt also, verursacht durch den Sturm-Überdruck.«
Ilenias Stimme blieb unbewegt. »Was bedeutet das für uns?«
»Wenn die Algenkultur mehr als 20 Minuten kein weiteres Kohlendioxid erhält, kippt der Kreislauf. Die Photosynthese stoppt und die Algen beginnen zu zerfallen. Wenn das entstehende Methanol über die Luftfilter in die Station gelangt, sterben wir alle hier innerhalb von drei Stunden an Vergiftung.« Die Algen waren die Lunge der Station.
»Kannst du es reparieren?«, fragte Ilenia.
»Nur manuell, in die Kuppel selbst. Ich brauche einen Anzug und 20 Minuten. Die Station hält dem Druck stand, aber die Kuppelwände der Biosphäre sind dünn. Sie ächzt bereits und die Diagnosen zeigen eine kritische Materialermüdung.«
»20 Minuten, Rainer. Der Sturm wird noch schlimmer. Wenn die Kuppel reißt, wird unsere Schleuse von einer Flut aus Sand und Trümmern getroffen. Ich muss sie dann sofort versiegeln. Du bliebest draußen. Also beeil dich.«
Rainer beendete die Verbindung. Er rannte zur Anzug-Sektion. Der Schutzanzug war schwer, klobig und seine Lebensversicherung. Er zog ihn hastig an, seine Bewegungen waren von jahrelanger Routine geprägt. Dann umhüllte ihn der Anzug mit seiner beruhigenden Enge.
Die Uhr tickte. 18:30 Minuten.
Er betrat die Außenschleuse, den Übergang zum Marsboden. Die Wände gaben ein knarrendes Geräusch von sich, als der Druckausgleich begann.
Als sich die Schleusentür zum Mars öffnete, traf ihn der Sturm. Der Wind war ein Tier, das ihn packte und schüttelte. Der Sand hämmerte gegen den Visor seines Helms. Alles um ihn herum war in ein tiefes, wütendes Rot getaucht.
Rainer kämpfte sich die 50 Meter zur Biosphäre 1 vor. Die Kuppel war ein riesiger, durchsichtiger Dom. Die dünne Außenhaut wölbte sich unter dem Druck des Sturms beunruhigend stark nach innen.
Er erreichte die Notschleuse der Kuppel – der einzige Zugang für Wartungsarbeiten in diesem Sektor – und gab den Code ein. Die Tür zischte und öffnete sich. Er stürzte hinein.
Im Inneren war es feuchtwarm und es roch nach Erde und Algen. Der Defekt befand sich im zentralen Regler, einem großen Metallkasten, der für die Atmosphärenbilanz der gesamten Kuppel verantwortlich war.
10:00 Minuten.
Rainer begann, den Kasten aufzuschrauben. Seine klobigen Handschuhe machten die Arbeit schwierig. Aber er fand das verklemmte Zahnrad und löste es mit einem beherzten Ruck. Das System summte und begann wieder, Kohlendioxid in die Nährlösung der Algen zu pumpen.
Geschafft. Die Lunge der Station war gerettet. 6:45 Minuten verblieben ihm.
Er atmete erleichtert auf und sah sich um. Doch seine Erleichterung verschwand, als er auf die Tanks blickte.
Die Algen änderten ihre Farben in einem unnatürlichen Rhythmus - Grün, Blau, dann ein tiefes, unheimliches Violett. Das war nicht normal. Aber Rainer wusste, dass die Algen bei extremem Umweltstress oft zu leuchten begannen.
Er ging zu einem Tank. Und sah, dass die Algen nicht nur Sauerstoff produzierten. Unter dem Überdruck des Sturms, der selbst die Nährlösung komprimierte, hatten sie begonnen, feste Strukturen zu schaffen: Winzige, verzweigte, kristalline Gebilde schwebten unter dem Glas. Eine unbekannte biologische Anomalie. Die Nährlösung enthielt immer auch eine winzige Menge Mars-Staub und reagierte nun damit.
Er griff nach einem Behälter und entnahm schnell eine Probe der Kristalle und der violett leuchtenden Algenflüssigkeit.
In diesem Moment traf eine besonders starke Windböe die Kuppel. Ein lautes, berstendes Geräusch. Dann ging ein Riss durch die Kuppelwand, direkt neben der Schleuse. Der Sturm, nun da die Algen gerettet waren, hatte die Kuppel gesprengt.
»Rainer! Sofort raus! Die Struktur gibt nach!«, brüllte Ilenia in seinem Helm.
Rainer rannte zur Notschleuse. Er konnte das Zischen der entweichenden Luft hören. Gerade als der Riss sich auf über einen Meter ausdehnte, presste er sich durch die Tür.
Er stolperte zurück zur Station. 00:30 Sekunden.
Er erreichte die Außenschleuse, bevor Ilenia die Notsperrung aktivierte und ihn ausschloss.
Dann sicherte sie die Station.
Rainer lehnte sich erschöpft gegen die kalte Metallwand. Er hatte die Station gerettet. Und in seiner Hand hielt er die Probe der leuchtenden, violetten Alge und der kristallinen Strukturen.
Der Sturm hatte nicht nur Sand gebracht, sondern eine Synthese erzwungen.
Die menschliche Biosphäre war von nun an Teil eines hybriden, unvorhersehbaren Ökosystems. Die Menschen wurden gezwungen, sich an die fremde, unbeugsame Ökologie des Biests Mars anzupassen.
14.12.25
14. Dezember: Der lila Atem
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