22.12.25

22. Dezember: Der Tribut für den Frieden

 Der Leuchtturm Dùn Mòr ragte wie ein weißer Knochen aus dem grauen Atlantik. Alastar, sein uralter Wärter, kannte zwar jeden Riss im Stein und jeden Ton des Windes, doch er wusste immer noch wenig von Dùn Mòrs Seele, die im »Buch des Turms« zu Hause war.
Dennoch begann Alastar jeden Abend um 21 Uhr sein Ritual, indem er sich an seinen Schreibtisch setzte. Während die Wellen um den Turm tosten, schrieb er. Sein Tagebuch war nicht für Wetterdaten gedacht, sondern für Geschichten – Erzählungen über fröhliche Heimkehrer, über ruhige Sonnenuntergänge oder über Liebe, die in Häfen wartete. Er schrieb über all das Licht und die Freude, die er in seinem eigenen Leben verloren hatte.
Alastar war fest davon überzeugt, dass diese Geschichten die Seelen der verlorenen Seeleute beruhigten und die Trauer besänftigten, die er seit dem Verlust seiner Frau tief in sich trug. Jedes Mal, sobald seine Trauer an die Oberfläche gelangte, wurde die See unberechenbar und wild.
An einem ruhigen Tag unter klarem Himmel hatte sich Alastar in seinen Gedanken verloren, während er sich um die komplizierte Uhrwerks-Mechanik des Scheinwerfers kümmerte. Erst als er seine Arbeit beendete, bemerkte er, dass es bereits 21:30 Uhr war: Er hatte das Ritual vergessen.
Im selben Moment schlug die Natur mit unbändiger Wut zu. Ein Windstoß erschütterte den Turm wie eine Hand, die am Gebäude rüttelte, und das Tosen des Meeres schwoll zu einem alles übertönenden Gebrüll an. Seine Trauer war aus den Tiefen seines Unterbewusstseins gestiegen. 
Hastig stürzte Alastar die Wendeltreppe hinunter an seinen Schreibtisch. Draußen peitschte der Sturm das Meerwasser bis zum dritten Stockwerk hoch und das Licht flackerte, als die Generatoren zu kämpfen begannen.
Er schlug das Buch auf der nächsten leeren Seite auf. Jetzt musste er schreiben, doch keine erfundene Freude würde diese Wut der Elemente besänftigen können. Der Sturm forderte Wahrheit.
Als die Wellen mit der Wucht von Rammböcken gegen den Turm schlugen und das Gebäude ins Wanken brachten, erkannte Alastar, welchen Weg er zu gehen hatte: Er musste endlich die wichtigste aller Geschichten niederschreiben – die Wahrheit über seinen Verlust, die er seit Jahren verdrängt hatte.
Mit zitternden, von der Kälte tauben Fingern begann er zu schreiben, während der Turm um ihn herum bebte und stöhnte:
»Meine geliebte Anya ist nicht friedlich auf dem Land gestorben ... Sie ist vor fünf Jahren in einer Nacht wie dieser ertrunken – direkt vor diesem Turm.«
Eine gigantische Welle traf den Turm, zerschmetterte eine Scheibe im Stockwerk über ihm und kaltes Meerwasser drang zu ihm herunter. Doch Alastar schrieb unbeirrt weiter.
»Ich war oben am Scheinwerfer. Ich habe ihren Ruf gehört, aber ich war zu feige gewesen, mich von der Sicherheit des Lichtes zu trennen. Ich habe sie im Sturm im Stich gelassen ... Ich trauere nicht nur um ihren Verlust. Meine Trauer nährt sich aus Schuld.«
Als er die letzten Worte niederschrieb und die Last seiner Schuld auf das Pergament gebannt war, trat plötzlich eine unheimliche Stille ein.
Das Donnern der Wellen verklang, und auch der heulende Wind verstummte, während die Generatoren wieder in ihren gleichmäßigen Takt fielen. Beim Blick durch die beschlagenen Fenster sah Alastar, dass sich der Sturm in einer Art stiller Ehrfurcht zurückgezogen hatte; unter ihm lag die See nun glatt wie Glas.
Erschöpft, aber erleichtert lehnte sich Alastar zurück. Die Wahrheit hatte die Gewalten besänftigt; mit dieser Geschichte hatte er seinen Tribut entrichtet. 
Dùn Mòr konnte wieder leuchten.

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