Whitechapel, London, 1888.
Der Nebel lag wie ein fauler, gelber Vorhang über den Gassen. Es stank nach feuchtem Kohlenstaub, Schleusenwasser und Armut.
Agent Christopher Finch zog den Kragen seines dunklen, dick gefütterten Ulster-Mantels hoch. In einer Manteltasche pulsierte sein Chrono-Sensor, das einzige Stück Technologie, das er von 2042 mitgebracht hatte und das die Energie-Signatur der Zeitanomalie verfolgte.
Seine Mission war einfach, aber sehr gefährlich: Finde den Chronon-Splitter: ein Fragment eines experimentellen Antriebs, das während eines historischen Flugs verloren gegangen war. Seine unkontrollierte Strahlung drohte, die letzten 150 Jahre der Geschichte neu zu schreiben.
Der Sensor schlug aus und er nahm ihn in die Hand. Das Signal kam aus der Gasse vor ihm, einem dunklen, nassen Tunnel zwischen zwei alten Mietshäusern.
Finch versuchte, seinen modernen, federnden Schritt abzulegen und ihn an die gemessene Gangart der Epoche anzupassen. Er musste wie ein Mann dieser Zeit wirken, als er durch den dicken Schleier der Vergangenheit zu dem kleinen, verfallenen Antiquitätengeschäft ging.
Das Schild über der Tür war kaum lesbar: »Der Schatzmeister«. Der Chrono-Sensor glühte grün. Der Splitter war hier.
Finch drückte die Messingtür auf. Ein Glöckchen schellte schwach. Als er eintrat, zündete der Händler hinter dem Tresen eine Petroleumlampe an; sie tauchte den Laden in schummriges Licht. Der Geruch war eine Mischung aus Altmetall, feuchtem Leder und einem Hauch von Ozon, der von dem Chronon-Splitter ausging, der sich irgendwo hier befand.
Jeder Zentimeter der Wände war bedeckt mit Kuriositäten: verrostete Uhren, vergilbte Karten, seltsame mechanische Tiere. Eine Hommage an das Zeitalter der Maschinen.
Der Händler saß hinter einem überladenen Tresen. Ein Mann mit einer dünnen, grauen Flaum von Haar und Augen, die zu viel gesehen hatten, eine Pfeife zwischen den Zähnen.
»Kann ich Ihnen helfen, mein Herr?«. Seine Stimme war heiser; er rauchte zu viel.
Finch schob seine Hände in die Taschen und spürte den Sensor. »Ich suche etwas Seltenes. Ein Unikat.«
Der Händler lächelte dünn. »In diesem Laden gibt es nur Unikate. Sagen Sie mir, mein Herr, suchen Sie etwas mit einem gewissen ›Zischen‹?«
Finchs Herz setzte einen Schlag aus. Der Händler wusste es. »Ich suche ein Artefakt, das einen kleinen Bruch in der Kontinuität verursacht«, sagte er vorsichtig.
Der Händler deutete auf eine alte, rostige Metallkassette auf dem Tresen. »Dieses Stück also. Ich habe es von einem Landstreicher gekauft. Es glüht manchmal. Und es verändert die Taktung der alten Uhr dort.« Er nickte zu einer Pendeluhr, deren Sekundenzeiger ruckartig vor und zurück zuckte.
Finch öffnete die Kassette. Dort lag der Splitter. Er sah aus wie ein poliertes, silbernes Steinchen und gab ein kaum wahrnehmbares, hochfrequentes Brummen von sich.
»Wie viel kostet es?«, fragte Finch.
Der Händler lehnte sich vor. Sein Gesicht war jetzt ein Schatten im Lampenschein. »Mein Preis ist Wissen, mein Herr. Eine Information, die nur ein Mann Ihrer Herkunft besitzen kann. Erzählen Sie mir von den Sternen. Wer hat als Erstes den großen roten Planeten betreten? Die Briten oder die Amerikaner?«
Finch zögerte. Das war Wissen, das die Kontinuität tief beeinflussen konnte. Aber ließe er den Splitter zurück, würde der die gesamte Zukunft löschen, während diese Information nur einen Teil davon ändern würde. Der Splitter musste zurück in seine Zeit.
»Es waren die Amerikaner«, sagte Finch schließlich. Er wählte die kleinere Übertretung. »Im Jahr 2038.«
Der Händler schloss die Augen. Ein Lächeln ging über sein Gesicht. »Jetzt weiß ich genug. Nehmen Sie das Ding. Es gehört Ihnen.«
Finch nahm den Splitter an sich. Der Sensor schaltete auf rot – Splitter gesichert.
Schnell verließ er den Laden. Der Nebel hatte sich gelichtet. Er spürte, dass die Zeit ihn beobachtete. Der Preis der Rettung war eine verlorene Information. Die Gefahr einer chronologischen Katastrophe war gebannt, während er die Zukunft nur minimal verändert hatte.
16.12.25
16. Dezember: Die viktorianische Störung
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