17.12.25

17. Dezember: Das Saatgut der Hoffnung

 Die Welt war Grau. Grau der Himmel, grau der Schnee, grau die Stahltrümmer der einstigen Stadt. Zwanzig Jahre nach dem »Großen Konflikt« war der nukleare Winter noch immer bitterste Realität.
Lena zog ihre Atemmaske zurecht. Aber die Luft brannte weiter in ihren Lungen. Auf ihrem Rücken trug sie den wertvollsten Schatz der neuen Zeit: Einen Jutesack mit versiegeltem, nicht kontaminiertem Saatgut – die Grundlage für die nächste Ernte der Siedlung ›Eden-Nord‹.
Der Weg war noch lang, doch der gefährlichste Abschnitt lag direkt vor ihr: Die Überquerung des Rheins, dessen breites, gefrorenes Band die schnellste, aber riskanteste Route zum gegenüberliegenden Ufer darstellte.
Lena kniete sich am Ufer hin und prüfte das Eis. Es war dick, aber in der Mitte gab es dunkle, dünne Stellen, wo die Unterströmung noch aktiv war. Ein Fehltritt dort bedeutete nicht nur den Tod im eisigen Wasser, sondern auch den Verlust des Saatguts.
Sie zog ihre Schuhspikes an, die ihr auf dem Eis Halt geben würden. Sie hatte zwölf Minuten für die Überquerung. Das war der Rhythmus, in dem die Patrouillen aus dem Norden Streife gingen. Auf ihrem Arm trug sie ein altes digitales Relikt, mit dem sie die Zeitmessung startete: 
Mit bedächtigen, gleichmäßigen Schritten betrat sie die gefrorene Fläche. Jeder Schritt war eine Entscheidung, jeder Knacks unter ihren Füßen ein Adrenalinschub.
Dann hatte sie die Hälfte des Weges geschafft. Das Eis knisterte jetzt lauter. Lena konnte durch die klare Oberfläche die dunkle, fließende Strömung darunter sehen.
Plötzlich hallte ein Schuss über die Ebene. Er traf das Eis etwa zehn Meter von Lena entfernt.
Lena zuckte zusammen und drehte sich um. Dort, am Ufer, das sie gerade verlassen hatte, sah sie drei Silhouetten. ›Ratten‹, Plünderer, die die Kurierrouten überwachten. Sie hatten ihr Licht gesehen, das sie bei der Kontrolle des Eises benutzt hatte.
Die Plünderer wussten, dass niemand wegen einer kleinen Menge über den Rhein ging. Ihnen war klar, dass ihre Fracht wertvoll sein musste.
Einer von ihnen hielt ein Gewehr, ein rostiges, aber gewiss funktionstüchtiges Relikt. Er zielte absichtlich auf das Eis. Er wollte nicht riskieren, die wertvolle Fracht zu beschädigen, indem er direkt auf sie schoss, sondern sie durch den Schock des berstenden Eises zum Anhalten und Aufgeben verleiten. 
Der Einschlag schickte feine Risse durch die Oberfläche, die sich schnell ausbreiteten. Das Eis begann zu singen, ein hohes, unheimliches Geräusch.
Aber Lena durfte nicht rennen. Zu viel Gewicht, zu viel Erschütterung. Sie musste ihr Gewicht so weit wie möglich verteilen. 
Sie ließ sich auf den Bauch fallen und begann, sich mit ihren Schuhspikes und den Händen vorwärtszuschieben. So glitt sie problemlos über die Risse hinweg.
Ein zweiter Schuss knallte. Er schlug noch näher ein, diesmal in einen dunklen Abschnitt. Ein großes Stück Eis splitterte ab und fiel mit einem dumpfen Plumps ins Wasser. Die dunkle Öffnung drohte sie zu verschlingen.
Lena ignorierte den Schock über das berstende Eis und kroch weiter. 
Die Plünderer waren zu vorsichtig, um das Eis selbst zu betreten. Sie setzten ihre Schüsse fort, aber aufgrund der wachsenden Entfernung und wohl auch ihrer Ungeduld mit zunehmend geringerer Präzision. 
Nach neun Minuten und siebzehn Sekunden erreichte Lena den Schnee am anderen Ufer. Sie sprang auf und rannte, bis die Silhouetten der Plünderer außer Sicht waren.
Keuchend hielt sie an. Der Sack mit dem Saatgut war unversehrt. Er enthielt nicht nur Samen, sondern die Hoffnung auf grüne Farbe in einer grauen Welt, die Hoffnung auf Leben im kalten nuklearen Winter.
Der Advent war in dieser Zeit kein Fest des Glanzes, sondern ein Versprechen auf die Rückkehr des Lichts. Und Lena hatte dieses Versprechen gerade über die gefrorene Grenze gebracht.

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