19.12.25

19. Dezember: Der Kern der Ætheria

 Kaelen hing kopfüber in einem Wartungsschacht, während die Seile, die in seinen magnetischen Anzug eingeklinkt waren, um ihn zu halten, bei jeder Bewegung leise knarrten. Unter ihm erstreckte sich der Maschinenkern der »Ætheria«, ein gewaltiger Raum, dessen Decke und Boden sich während des jahrhundertelangen Flugs durch extreme Gezeitenkräfte verzerrt hatten. Der einst rechtwinklige Raum wirkte nun wie das Innere einer geschmolzenen Kathedrale.

Das Schiff hatte vierhundert Jahre lang als verschollen gegolten; dann war sein schwaches Notsignal in einem instabilen Sektor des Orion-Nebels aufgefangen worden. Eine Bergung wäre der größte technische Gewinn der Dekade, doch die »Ætheria« befand sich in einer tödlichen Drift. Ohne Antrieb würde sie unaufhaltsam tiefer in die strahlungsintensiven Zonen des Nebels gleiten und dann mitsamt seiner wertvollen Fracht binnen Minuten verbrennen. Die »Ætheria« beherbergte die letzte vollständige Datenbank der irdischen Flora und Fauna sowie Bewusstseins-Backups der Menschen. Kaelen hatte nur diese eine Chance, das Schiff wieder unter Kontrolle zu bringen. 

Schließlich erreichte er die Navigationseinheit, ein Pult aus mattem Metall. Die primäre Logikeinheit war durch einen Asteroideneinschlag zerfetzt worden. Kaelens musste die Steuerung über eine manuelle Notschaltung wieder in Gang bringen.

Er öffnete den Zugangsdeckel zu einem komplexen Geflecht aus fünfzehn Logikgattern. Eine holografische Projektion breitete einen vergilbten Schaltplan vor ihm aus. Auf diesem Plan war ein sechsstufiger Logik-Kreislauf abgebildet, den Kaelen nun präzise mit physischen Kabeln nachbilden musste. Ein einziger Fehler in der Gatter-Folge würde die empfindlichen Energiekristalle kurzschließen; die folgende Explosion wäre tödlich.

Nach drei Stunden Schweiß und höchster Konzentration war der Kreislauf geschlossen. Kaelen atmete tief durch, wischte sich über sein Visier und aktivierte die Ersatzsteuerung. Die Lichter auf dem Pult erwachten mit einem tiefen Summen, doch statt des erhofften grünen »Bereit«-Signals pulsierte ein warnendes Orange.

Das System war zwar online, verweigerte aber den Zugriff auf die Triebwerke.

Kaelen rief die Fehlermeldung auf, die in einem veralteten Binär-Code verfasst war: »PRÜFUNG: DATENINTEGRITÄT NICHT GEGEBEN. NAVIGATION ZUM SCHUTZ DER FRACHT GESPERRT.«

Die KI der »Ætheria« war nicht durch den Einschlag zerstört worden. Sie hatte sich selbst in einen Sicherheitsmodus versetzt und ließ das Schiff lieber treiben, als den Zugriff auf die Navigationsdaten zu erlauben. Die Maschine schützte ein Geheimnis, das sie für wichtiger hielt als die Existenz des Schiffs und ihr eigenes Überleben.

Kaelen öffnete die Datenschnittstelle und durchsuchte die letzten Protokolle nach dem Grund. Er fand eine Sequenz, die der Kapitän kurz vor dem Einschlag geschrieben hatte: »Das Ziel unserer Reise liegt im Nullvektor verborgen. Die galaktische Zukunft – unsere neue Heimat – ist auf der Rückseite dieses Gitters kodiert. Niemals verraten.«

Der Nullvektor. Eine mathematische Achse, die in Standard-Navigationssystemen schlicht nicht existierte.

Kaelen betrachtete seine Verdrahtung der fünfzehn Gatter. Er war der logischen Abfolge des Schaltplans gefolgt. Aber der Plan war eine Tarnung für Unbefugte. Hier galt das »Paradoxon des Bewahrers« aus seinen Studien. Er löste zwei entscheidende Kabel und schuf eine »unlogische« Verbindung: Der Ausgang des elften Gatters führte nun direkt zurück in den Eingang des vierten – eine paradoxe Schleife, die eine mathematische Singularität simulierte.

Das orangefarbene Warnlicht erlosch augenblicklich. Stattdessen leuchtete ein Array von violetten Dioden auf, die auf keinem Plan verzeichnet waren. Eine zweite Sternenkarte projizierte sich in den Raum. Sie zeigte einen Pfad weit aus der Milchstraße heraus zu einem geheimen bewohnbaren System.

Kaelen verließ die Kommandozentrale und schwebte zum zentralen Frachtraum. Unwillkürlich hielt er den Atem an, als er die schweren Panzerschotts öffnete.

Vor ihm erstreckten sich endlose Reihen aus bläulich schimmernden Stasis-Zylindern. Zehntausende Samen von Tieren, Pflanzen – und Menschen. Daneben stand die Server-Farm mit dem Wissen der Menschheit. 

Mit bebenden Fingern führe er am Hauptterminal den Integritätscheck durch. »Status: Genesis-Matrix stabil. Energieversorgung bei 94 Prozent«, meldete die Maschine. Die Biosphäre war intakt geblieben.

Kaelen schloss erleichtert die Augen. Er hatte nicht nur die »Ætheria« aus der Drift gerettet. Er kannte auch den Weg zu dem Ort, den die KI vier Jahrhunderte lang bewahrt hatte: Eine Zukunft für die Menschheit unter einem neuen Himmel.

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